Von Herdentieren und Zelleninsassen, St. Galler Tagblatt

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Von Herdentieren und Zelleninsassen

Nils Röller, Professor an der Zürcher Hochschule der Künste kuratiert die aktuelle Gruppenausstellung im Kunstraum Kreuzlingen. Fünf Künstler spüren in «Zellenleben» dem Menschen und seiner Behaustheit nach.

Ein raffiniertes Thema, das Raum für Abbild und Deutung lässt: «Zellenleben». Die Zelle als Baustein des Körpers und als Form der menschlichen Behausung; das Innen und das Aussen, dazwischen der Mensch. Hier fliesst ein rätselhaftes blaues Samttuch aus einer geschlossenen Tür im Londoner East End (Judith Albert, 1969), da ragen Wohntürme empor in anonymen Städten (Beat Streuli, 1957), dort liegt ein amorphes, beige-braunes Etwas auf dunkler Erde, einer Mumie gleich (Dominic Neuwirth, 1991).

Lebensraum oder Gefängnis für die Menschen?

Verwandtschaften, Zusammenhänge sind nicht sogleich erkennbar zwischen den fünf unterschiedlichen Positionen, die Kurator Nils Röller zum Thema gefügt hat. Er ist Philosoph und lehrt Medien- und Kulturtheorie an der Zürcher Hochschule der Künste – das sieht man der Ausstellung auch an:

 

Sie schwankt zwischen sinnlich und verkopft.

 

Nüchtern, abstrakt, beinah aseptisch sind Beat Streulis Fotografien aus seinem Langzeitproject «Fabric of Reality», zu dem bei Lars Müller Publishers im Mai eine Monografie erscheint: Fassaden, hinter denen die Lebensräume, die Menschen, das Leben unsichtbar bleiben. Der international tätige Fotograf stellt in seinen grossen Wallpapers unweigerlich die Frage nach der Wirklichkeit: Leben die Menschen da oder sind sie da gefangen?

Barbara Ellmerer (1956) bildet unsichtbare Kräfte ab. In ihrer vierteiligen Werkgruppe «Organell» zoomt sie auf grossformatigem Grund in die mikroskopisch kleinen Zellkraftwerke hinein, malt farbige Körper in ihrer überlebensgrossen Abstraktion. Und die Künstlerin befragt so zugleich die Elemente der Malerei.

Fast unscheinbar gibt sich das Ready-Made des St. Gallers Jso Maeder (1957) mitten im weiten Raum. Wie in einem Zettelkasten aus Plexiglas stehen zwei Dutzend Tafeln und Folien: Fotografien, Zeichnungen, teils zu Motiven, die er im Internet gefunden hat.

Jso Maeder fragt, was die Kunst begrenzt, und er lässt uns sie be-greifen.

Bilder des Trostes und ­Räume des Trostes

Den offensichtlichsten Bezug zum Ausstellungsthema «Zellenleben» bieten im Eingangsbereich Bildprotokolle von Barbara Ellmerer, Dominic Neuwirth und Vera Kaspar in einer Tischvitrine. Die drei erkunden Bilder anonymer Künstler zur Philosophie, vor allem Illustrationen zum «Trost der Philosophie» des römischen Denkers Boethius, der in den Zellen des Klosters St. Gallen von Mönchen erstmals ins Deutsche übersetzt worden war. Und mit dieser Arbeit aus dem Projekt «Ikonografie der Trostschrift» schliesst sich der Bogen von der Vereinzelung hin zur Gemeinschaft.

Unabhängig von «Zellenleben», aber durchaus passend, ist die Installation «Rest or Stay» im Tiefparterre. Marianne Halter und Mario Marchisella sind in Japans Städten auf Türen gestossen, hinter denen Räume für Träume zu mieten sind – stundenweise. Für erotische Rendez-vous oder fürs Karaoke-Singen. «Perfekt hat die Architektur die Idee des Verborgenen aufgegriffen, die Sehnsucht, das Verstecken, das Dahinter», sagt Kunstraum-Kurator Richard Tisserand.

 

Kunstraum Kreuzlingen, bis 19.5. Symposium: 16.5., 12–17 Uhr

 

 

Langhardt, Dieter, “Von Herdentieren und Zelleninsassen” (14.04.2019), in: https://www.tagblatt.ch/kultur/von-herdentieren-und-zelleninsassen-ld.1110794?mktcid=smsh&mktcval=Facebook&fbclid=IwAR1bsPpG1KmtngxDYvB9wmtIiH8-tgGuE2wy7NU3FT8_JAfz_3u6xW8W3d4 , abgerufen am 16.04.2019.

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